Venezianische Wahrheiten
Japanische Lektionen in der Stadt Marco Polos
Japan und Italien haben so manches gemein. Beide sind reiche Industrieländer mit einer langen kulturellen Tradition, die weltweit hochgeschätzt wird. In beiden Ländern erfreuen sich die Menschen eines längeren Lebens als fast überall auf der Welt. Wenn die Rede auf die demographische Entwicklung kommt, werden sie häufig in einem Atem genannt, insbesondere auch bezüglich der niedrigen Fertilitätsrate (Japan 1,4, Italien 1,3 Lebendgeburten pro Frau). Für beide Länder sind die damit verbundenen Prozesse der Alterung und Bevölkerungsschrumpfung Herausforderungen mit diversen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Facetten.
Dass Japan und Italien sich auch in vieler Hinsicht unterscheiden, z. B. in sozialen Konventionen, Etikette, Arbeitsethik und Alltagsverhalten, brauche ich nicht hervorzuheben. Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede machen einen Vergleich attraktiv. Die Gelegenheit, die mir geboten wurde, italienische Studentinnen und Studenten über die japanische Gesellschaft zu unterrichten, nahm ich deshalb gerne wahr, zumal in Venedig, einer Stadt, die ältere Beziehungen nach Ostasien hat als beinah jede andere in Europa.
Zusätzlich reizvoll wurde diese Aufgabe durch den mir ungewohnten Blick auf den Gegenstand meiner Arbeit im Hörsaal einer italienischen Universität. In den Sozialwissenschaften ist der Standpunkt ja besonders wichtig, weil er einen Einfluss darauf hat, was man für bemerkenswert hält und welche Fragen man stellt. Sich im abstrakten Sinne gewahr zu sein, dass die Perspektive irgendwo anders wahrscheinlich eine andere ist, ist nicht dasselbe, wie irgendwo anders zu sein und das somit konkret selbst zu erfahren.
Zu dieser Erfahrung hat mir ein Semester an der Universität von Venedig Ca‘ Foscari und haben mir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meines Seminars verholfen. Einige der Einsichten, die ich dabei gewonnen habe und für mitteilenswert halte, habe ich auf den Seiten dieses Büchleins festgehalten.