Transregionale Akteure in Ostasien: Christentum, Bildung und Unabhängigkeitsbewegungen
seit Februar 2024
Die historische Forschung ordnet die Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus in Ostasien bislang tendenziell den Hauptnarrativen der japanischen imperialen Geschichte unter. Sie lässt somit der Handlungsfähigkeit der Kolonisierten oft nur wenig Raum. Lokale Akteure, etwa asiatische Studierende, westliche Missionare, städtische japanische Intellektuelle und asiatische Unabhängigkeitsaktivisten spielten jedoch eine entscheidende Rolle bei der Formierung politischer und gesellschaftlicher Dynamiken des japanischen Kolonialreichs und seines anhaltenden Vermächtnisses nach 1945. So dienten beispielsweise Studierende aus kolonisierten Ländern wie Korea oft als Vermittler neuer Ideen und Praktiken, während Missionare zum Bildungs- und damit zum Wissens- und Ideenaustausch beitrugen. Auf diese Weise öffneten sie, zumindest im koreanischen Fall, eine alternative Route, über die der kolonisierten Bevölkerung Modernität vermittelt werden konnte. Diese Mittlerrolle schuf einen zusätzlichen „dritten Raum“, den Intellektuelle und Unabhängigkeitskämpfer für sich nutzen konnten, um asymmetrische Machtstrukturen in Frage zu stellen.
Das Projekt knüpft an diese Überlegungen an und zielt darauf ab, die unterschiedlichen Interaktionen sichtbar zu machen, die die kulturelle und politische Landschaft des kolonialen und postkolonialen Ostasiens geprägt haben. Es möchte ein Korrektiv zum Paradigma der Nationalgeschichte und zum vorherrschenden Top-Down-Ansatz in der Kolonialgeschichtsschreibung bieten, indem es einen akteurszentrierten Ansatz verfolgt, der eine vielschichtige Perspektive auf die regionalen Verflechtungen Japans ermöglicht und über eurozentrische Modernisierungsmodelle hinausgeht. Vor diesem Hintergrund untersucht das Projekt Wissensströme und transregionale Verflechtungen und Netzwerke zwischen Individuen und Gruppen innerhalb und außerhalb des japanischen Kolonialreichs.
Das Projekt konzentriert sich dabei insbesondere auf die Überschneidung von christlicher Missionsarbeit, kolonialer Bildung und Unabhängigkeitsbewegungen und untersucht, wie die Interaktionen zwischen antikolonialen Studierenden, Unabhängigkeitsaktivisten, westlichen Missionaren und japanischen Intellektuellen zu Prozessen beitrugen, die die Produktion, Verbreitung und den Konsum von Wissen beeinflussten. Obwohl diese Akteure sehr diversen sozialen und individuellen Hintergründen entstammten, die unterschiedliche Machtpositionen widerspiegelten, konnten sie zeitweise mehrere Rollen zugleich übernehmen, die sich überschneidende Identitäten und Interessen aufwiesen. Die transregionalen Akteure trugen zur Gestaltung des historischen Kontexts von Imperialismus, Nationalismus und Antikolonialismus bei und wurden ihrerseits von diesem Kontext geprägt. Das Projekt hebt daher die Komplexität kolonialer und postkolonialer Identitäten und die zentrale Bedeutung Ostasiens für die Geistesgeschichte der Meiji-, Taishō- und Shōwa-Zeit hervor, um neue Erkenntnisse über die breiteren Auswirkungen dieser Interaktionen in Japan, Ostasien und im asiatisch-pazifischen Raum zu gewinnen.