Japanische Thomas Mann-Rezeption zwischen Kulturheteronomie und emanzipatorischen Impulsen
seit Oktober 2023
Als der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki Thomas Manns Tonio Kröger als "Jahrhunderterzählung" bezeichnete, bezog er sich damit in erster Linie das europäische und amerikanische Publikum, doch auch auf die japanische Rezeption des 20. Jahrhunderts trifft diese Charakterisierung vollauf zu: Bereits kurz nachdem 1927 im renommierten Iwanami-Verlag die erste japanischsprachige Tonio Kröger-Übersetzung erschienen war, avancierte die Erzählung zu einem Kerntext von Japans akademischer kyōyōshugi (sinngemäß „Bildungshumanismus“)-Elite. Diese glaubte, in Tonios ideologischem Dilemma zwischen Künstlertum und gesellschaftlichen Zwängen ihren eigenen Zwiespalt zwischen idealistisch-verinnerlichender Literaturrezeption und einer als oberflächlich wahrgenommenen Verwestlichung wiederzuerkennen.
Auf die in japanischen Intellektuellenkreisen dementsprechend langfristig einflussreiche Erstübersetzung folgten insgesamt 14 weitere Tonio Kröger-Übersetzungen (Retranslations) ins Japanische, welche die unterschiedlichen historischen Kontexte, aus denen sie jeweils hervorgegangen sind, in vielfältiger Weise widerspiegeln: Dazu gehören neben der in akademischen Kreisen für ihre Nähe zum Ausgangstext gerühmten Erstübersetzung unter anderem auch politisch zensierte Tonio Kröger-Retranslations sowie neuere Ansätze, die Tonios im 19. Jahrhundert verwurzelte fiktive Teilbiografie domestizierend an die Lesegewohnheiten des japanischen Gegenwartspublikums anzupassen versuchen. Diese unterschiedlichen Ausprägungen japanischer Übersetzungskultur veranschaulichen nicht nur einen Einstellungswandel gegenüber Thomas Mann sowie gegenüber der kyōyōshugi-Bildungselite, sondern zeugen gleichermaßen von historisch gewandelten kulturellen Selbstverortungen Japans gegenüber dem Westen.
Durch die Implementierung digitaler Themenmodelle lassen sich diese Entwicklungen im Rahmen einer Volltextanalyse aller 15 japanischen Tonio Kröger-Retranslations nachvollziehen. Den Betrachtungsschwerpunkt bilden hierbei nicht etwa normative Auffassungen von „Treue“ gegenüber dem deutschsprachigen Ausgangstext, sondern in erster Linie die ansonsten verborgenen Ähnlichkeits- und Einflussbeziehungen zwischen den Übersetzungstexten, welche kontextualisierend auf verschiedene Beziehungs- und Affiliationskonfigurationen zwischen den Übersetzenden zurückgeführt werden können.