Repräsentationen von Behinderungen in der japanischen Gegenwartsliteratur
seit Oktober 2023
Das Projekt folgt einer kulturwissenschaftlichen Sicht auf Behinderung. Es versteht diese als heuristisches Moment, durch das auf sonst verborgene kulturelle Praktiken und gesellschaftliche Strukturen geblickt werden kann.
Jüngst erfahren Behinderungen in gesellschaftlichen sowie (arbeitsmarkt)politischen Debatten eine stärkere Aufmerksamkeit. Auch spielen Diversität und Gleichberechtigung in öffentlichen Debatten zunehmend eine Rolle. Zugleich werden Behinderungen sichtbarer – so etwa im Zusammenhang der Olympischen/Paralympischen Spiele Tokyo 2020 und in literarischen wie kulturellen Werken.
Dem Diskursfeld der Erwerbsarbeit kommt mit Blick auf Behinderung besondere Bedeutung zu. Als sozio-kulturelles Phänomen ist Behinderung komplex verflochten mit Arbeit, mit Formen ihrer Organisation sowie mit geltenden Vorstellungen und Normen. Erstens wirkt Berufsausübung prägend auf nahezu alle Aspekte einer individuellen Lebensgestaltung, Sinnstiftung und Identität. Zweitens kommt Erwerbsarbeit schon immer auch eine besondere gesellschafts- und wirtschaftspolitische Bedeutung zu. Aktuell zeigt sich dies in den Debatten zu Digitalisierung, Fachkräftemangel oder Work-Life-Balance. Eine große Zahl neu erschienener Werke der japanischen Literatur widmet sich dem Thema Arbeit. Drittens ist unser heutiges Verständnis von Behinderung sowie dessen Herausbildung als Begriff und Konzept eng verflochten mit Prozessen der Modernisierung und mit normativen Vorstellungen eines zur Erwerbsarbeit fähigen, sich selbst versorgenden Individuums.
Darstellungen von Behinderung werden in der Literatur seit ihren Anfängen thematisiert. Namhafte Beispiele der neueren bzw. modernen Literatur sind: Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein (1964), Mary Shelley: Frankenstein (1818), Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (1831) sowie Akutagawa Ryūnosuke: 侏儒の言葉 (Die Worte eines Zwerges, 1927), Mishima Yukio: 金閣寺 (Der Tempelbrand, 1956), Tanizaki Jun'ichirō: 春琴抄 (Shunkinshō: Biographie der Frühlingsharfe, 1933). Während Behinderungen in den Sozialwissenschaften bereits zu einem etablierten Forschungsthema geworden sind, hat die literaturwissenschaftliche Japanforschung Darstellungen von Behinderungen noch kaum untersucht. Eine Studie zu literarischen Repräsentationen von Behinderungen im Kontext von Erwerbsarbeit liegt bislang nicht vor. Ziel dieses Projekts ist es, zur Schließung dieser Lücke beizutragen und dabei zugleich eine japanologische Perspektive zu den interdisziplinären Literary Disability Studies anzubieten.
Beforscht werden repräsentative Werke der Erzählliteratur, die verschiedene Formen der Behinderung abbilden. So weist die Protagonistin von Murata Sayakas コンビニ人間 (Die Ladenhüterin, 2016) Auffälligkeiten auf, die als Anzeichen von Autismus und somit einer psychischen Behinderung gelesen werden können (siehe auch Artikel in Bunron, Nr. 10, 2023). Der Roman ハンチバック (Eine Buckelige, 2023) von Ichikawa Saō erzählt von einer körperbehinderten Frau, die sich schreibend andere mögliche Lebenswirklichkeiten entwirft, und stellt dabei herrschende Annahmen zu Behinderungen in Frage.
Untersucht wird, wie Behinderungen in einschlägigen literarischen Werken sprachlich-stilistisch, narratologisch sowie motivisch entworfen werden. Außerdem wird analysiert, wie Behinderungen funktionalisiert werden, in welche kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte sie eingeschrieben sind, welche Annahmen und Denkmuster dabei zugrunde gelegt werden sowie schließlich welche Verschränkungen mit weiteren Identitätsdimensionen und Diskursfeldern bestehen. Dabei soll diskutiert werden, inwiefern literarische Repräsentationen von Behinderungen im Kontext von Erwerbsarbeit gesellschaftliche Diskurse übernehmen, verschieben oder abwehren.