Profil Minemura Kenjis auf dessen Twitter-Account. Er hatte zuerst über die Probleme der Datensicherheit bei LINE berichtet, die dann als LINE-Problem (LINE問題) bekannt wurden.
Aktueller Begriff LINE Mondai
15. Juli 2022, von Harald Kümmerle
Seit Beginn des Ukrainekrieges ist Versorgungssicherheit auch in Deutschland und global ein wichtiges Thema geworden. Im Bereich der ökonomischen Sicherheit hat Japan vor allem mit Blick auf den Handel mit China bereits einige Erfahrungen gesammelt. Insbesondere wurde in Japan im vergangenen Jahr deutlich, dass Versorgungssicherheit nicht nur physische Waren und Energieträger, sondern auch die digitale Infrastruktur betrifft. Im März 2021 geriet die Sicherheitsarchitektur eines Programmes, dass die meisten Japaner täglich benutzen, in die Kritik: die Messenger-Applikation LINE, die in Japan, Taiwan und Thailand eine ähnliche Dominanz wie WhatsApp in den meisten Ländern des Westens hat.
Das, was seitdem als „LINE-Problem“ (LINE問題) diskutiert wird, drang am Morgen des 17. März 2021 an die japanische Öffentlichkeit: in einem Artikel auf Seite eins der Asahi Shimbun („Personal data of millions of Line users accessed by affiliate in China“) wurde berichtet, dass Softwareentwickler bei einem Auftragnehmer in China auf die persönlichen Daten japanischer LINE-Nutzer zugreifen konnten. Dies sei seit August 2018 auch mindestens 32 mal passiert. In den folgenden Tagen stellten Ministerien und lokale Behörden die Kooperation mit LINE ein, obwohl diese sich eigentlich Hoffnungen gemacht hatten, dass die Applikation die Impfkampagne gegen COVID-19 unterstützen würde.
Für seinen Bericht am 17. März erhielt der Journalist Minemura Kenji den Preis der Japan Newspaper Publishers and Editors Association für das Jahr 2021. Doch das Problem betrifft vermutlich nicht nur LINE: auch bei der chinesischen Video-App TikTok fürchten Experten, dass Entwickler aus China auf die persönlichen Daten ausländischer Nutzer zugreifen könnten. Im letzten Jahr seiner Präsidentschaft wollte Donald Trump TikTok deswegen aus den amerikanischen App-Stores verbannen, was allerdings aus Mangel an Beweisen gerichtlich untersagt wurde. Dass sich LINE Minemuras Recherchen gegenüber kooperationsbereit zeigte, liegt nicht zuletzt daran, dass LINE eine Firma mit Sitz in Japan in teils südkoreanischem, teils japanischem Besitz ist – und an dem Unterschied, dass LINE noch viel sensiblere Daten anvertraut werden als TikTok.
Die Berichterstattung in der japanischen Presse zog sich über mehrere Wochen hin, da nur langsam klar wurde, wie es zu dem LINE-Problem gekommen war und wie es behoben werden könne. Der Rückgriff auf chinesische Entwickler sei aus finanziellen Gründen unumgänglich gewesen, beteuerte LINE, aber man habe hiermit verbundene Risiken nicht angemessen berücksichtigt. Das Firmenimage nahm insofern Schaden, als sich die Garantien zur Datensicherheit teilweise als ungenau oder irreführend herausstellten. Dennoch zeigte sich Amari Akira, ein Experte für ökonomische Sicherheit der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP), Anfang April 2021 durchaus erleichtert, dass das Problem ans Licht gekommen war. Japanische Unternehmen müssten, so Amari, lernen, dass Geschäfte mit China zwar notwendig und sinnvoll seien, aber nur mit stark erhöhten Sicherheitsmaßnahmen (Huffington Post-Artikel, auf Japanisch). Im Rahmen einer allgemeineren Untersuchung der Datenstrategie Japans habe ich das LINE-Problem geopolitisch eingeordnet („Japanese data strategies, global surveillance capitalism, and the ‚LINE problem'“. Matter: Journal of New Materialist Research, 2022, 3(1), 134–159). Ich komme zum Ergebnis, dass sich seine Bedeutung nur vor dem Hintergrund des strategischen Wettstreites zwischen den USA und Chinas erschließt.
Im Oktober 2021 gab Minemura Kenji detaillierte Einblicke in seine Recherchen zum LINE-Problem und dessen Hintergründe in einer Folge der Podcast-Serie der Asahi Shimbun. Wie der Titel der Podcast-Episode feststellt: „The core of the LINE problem is China’s National Intelligence Law“, also das 2017 erlassene Gesetz, das von allen Bürgern und in China ansässigen Firmen verlangt, dem chinesischen Staat auf Anfrage bei der Informationsbeschaffung zu helfen (siehe Artikel auf dem Lawfare Blog von Murray Scot Tanner, 2017). Ein Generalverdacht gegen chinesische Firmen würde schwer wiegen. Doch seit dem Bekanntwerden des LINE-Problems im März 2021 wird die Tatsache, dass Unternehmen mit Vertragspartnern aus China einem potenziell erhöhten Risiko ausgesetzt sind, zumindest in Bezug auf die digitale Infrastruktur in Japan mitberücksichtigt.